Was gibt es Geheimnisvolleres als die Klarheit? (Paul Valery)
Geometrie und Geheimnis
Einige Aspekte zu meinen Arbeiten
Meine Arbeiten bewegen sich in einem Zwischenbereich zwischen Malerei und Skulptur. Schwarze und weiße Papierbahnen sind in mehreren Schichten übereinander auf Holzträger aufgebracht, wobei glatte und zerknitterte Bildbestandteile wechseln. Riss- und Falzkanten, Faltungen und Knitterspuren bilden räumliche Elemente. Es kommt, ähnlich wie in der Architektur, zu einem Vor- und Zurückweichen von Sockeln, Risaliten, Ebenen. Dieser räumliche Aspekt erzeugt je nach Lichteinfall interessante Schattenbildungen.
Bei den Arbeiten handelt es sich also nicht um zweidimensionale Tafelbilder mit einer Projektion in einen imaginären Raum, sondern um offene Bildkörper. Wichtig ist der reale Raum, den die Objekte bilden. Jede Schicht ist nur mehr oder weniger lose mit der jeweils anderen verbunden. Es bilden sich Zwischenräume, das Objekt „atmet“, ist nicht auf ewig fixiert.
Das Papier hat sich von der ursprünglichen Trägerfunktion emanzipiert und ist selbständiges Bauelement des Bildes geworden. Bleistiftspuren tauchen nur noch als Reminiszenz an die ursprüngliche Trägerfunktion des Papiers auf, als Akzentuierung und „Demarkationslinie“, als Schattenfuge neben und auf den Papierstreifen oder als individueller Gestus gegen das strenge Reglement des Systems.
Es geht bei den Objekten um das, was sich unter der Oberfläche verbirgt, was plötzlich aufbricht, aufreißt. Einschnitte, Zerrissenheiten, Aufbrüche, werden offengelegt, gezeigt und sinnlich erfahrbar gemacht. Es geht um jähe Umschläge von schwarz nach weiß - und umgekehrt - und die Sehnsucht nach Ausgeglichenheit, nach dem Ausbalancieren von Spannungszuständen und der Bändigung von diametralen Kräften. Als Kompositionsprinzip herrscht das konstruktive Prinzip von Horizontalen und Vertikalen vor, wenngleich dieses Regelsystem mitunter bewußt durchbrochen wird.
Was mich fasziniert: In den scheinbar so einfachen geometrischen Figurationen des Konstruktivismus liegt etwas Transzendentes, das Form und Materialität des Werks übersteigt. Vielleicht liegt dies an der Sugestibilität der Kreuzesform, die sich durch das gegenseitige Durchdringen von Horizontalen und Vertikalen ergibt, und die - über das christliche Symbol hinaus - als Symbol des Universalismus gilt, als Dialog der Absolutismen, Mensch und Welt, Leben und Tod. In jedem Fall erzeugen sie ein meditatives Spannungsfeld, das dem Betrachter ein Gefühl seiner eigenen existentiellen Situation zu vermitteln vermag.
Vergleichbar mit griechischer Klassik ist hier der jeweils im Kunstwerk entwickelte Ausgleich von Gegensätzlichkeiten (Bewegung und Ruhe, Individualität und Regularität), sowie das Thema der Proportion. Die klassischen Proportionen und die überzeitlichen Formen (Tor, Engel, Mantel) stehen gegen die Fragilität des Papiers, - Metapher für die Endlichkeit und Verletzbarkeit des menschlichen Lebens.
Das ewig Schöne im Spannungsfeld der Vergänglichkeit.
Beate Rothensee
Geometrie und Geheimnis
Eine Kopie von Dürers Stich "Melencolia" hängt in Beate Rothensees Atelier. Man weiß von Dürers starkem Interesse an der Geometrie, welches in abgestuften Graden für jeden Renaissancekünstler charakteristisch war. Dennoch haben schon in der Renaissance Künstler die "objektive" Wahrnehmung durchkreuzt, sei es durch Momente der Ikonographie (s. Dürers oben erwähntes Blatt) oder durch Zuspitzung der Perspektivität in der Anamorphose. Als Verkörperung eines der vier Temperamente der alten kosmologischen Lehre zeigt die sitzende Figur der "Melencolia", welchen Bezug die menschliche Gestalt zum Realen hat, wenn die Geometrie - und diese steht hier für die Überbetonung des Rationalen, Technischen - den Menschen auf das rationale Subjekt reduzieren will. Geometrie und Geheimnis schließen sich gegenseitig aus. Das Geheimnis der "Melencolia" ist das, was das Andere des Rationalen ist. Vielleicht inspiriert dies die Künstlerin, in ihren Arbeiten Geometrie und Geheimnis in einem komplementären, nicht in einem sich ausschließenden Verhältnis anzugehen.
Die Zentralperspektive charakterisiert explizit den Blick des neuzeitlichen Subjekts als "objektiven" Beobachterstandpunkt, der fortan in der Alltagswahrnehmung wie im wissenschaftlichen Denken Priorität hat. Was ihm nicht entspricht wird abgespalten, so dass auch das Denken analog zur räumlichen Aufteilung der Geometrie in "objektiv" und "nicht objektiv" eingeteilt wird. Sogar schon auf einer ersten Wahrnehmungsebene zeigen sich elementare Strukturen des Raumes als dualistische. Hieraus resultieren beispielsweise die Trennungen von Rationalität und Gefühl, von Bewusstem und Unbewusstem, libidinöser Energie und Melancholie u. a.. Das, was untergeordnet wird, bleibt jedoch latent erhalten. Noch eine Bemerkung zu zwei entscheidenden Attributen der Geometrie: Quantität und Maß. Sie bewirken die Schönheit der Proportionen im Verhältnis der Teile zueinander. In Beate Rothensees Arbeiten kommen sie durch vorwiegende Beschränkung auf Schwarz und Weiß, betonte Orientierung an Vertikalen und Horizontalen zu ihrem Recht.Indem jedoch von ganz präzisen geometrischen Formen durch die Konzentration auf deren Ränder, die ebenso wie einzelne Flächen gerissen, geknittert, gefaltet, angeschnitten sind, abgewichen wird, werden die Grenzen der geometrischen Formen in den Trennungslinien, Rändern und Rissen der Papiere gleichzeitig zu Innen und Außen; manchmal werden Schatten sichtbar, die sich der teilenden Grenze unmittelbar nähern. Es zeigen sich Phänomene, die man durch Messung nicht wahrnehmen kann. Dem entspricht die hohe Sensibilität der Künstlerin für Papier, das ihr bevorzugtes Material ist. Die Papiere überlappen sich, bilden Schichten, stoßen aufeinander. Es kommen räumliche Wirkungen zum Tragen, die die Zweidimensionalität des Tafelbildes wie der Zeichnung nicht nur imaginär, sondern real hinter sich lassen.
Bis auf wenige Ausnahmen - s. z. B. "Blanca" - verzichtet Beate Rothensee auf malerische oder zeichnerische Praktik. In ihren Arbeiten entsteht eine neue Realität, ein "Zwischen", minimale Leerräume, die eine Art "Nichts" bezeichnen. Dieses "Nichts", das "Zwischen", wendet sich gegen eine undifferenzierte Unterscheidung von Schwarz und Weiß, Rationalem und Nichtrationalem, Positivem und Negativem.
Maria Kreutzer
Geometry and Mystery
A copy of Dürer's engraving "Melencolia" hangs in Beate Rothensee's studio. It is known that Dürer had a keen interest in geometry, as was characteristic for every Renaissance artist to various degrees. Yet already in the Renaissance artists foiled "objective" perception, be fit by means of iconography (see Dürers print above-mentioned) or by intensifying perspectivity into anamorphosis.
As the embodiment of one of the four temperaments of ancient cosmological teachings, the sitting figure of "Melencolia" shows what relationship the human form has to the real, when geometry - which here stands for the overemphasis of the rational and the technical - reduces man to a rational subject. Geometry and mystery exclude each other mutually. The mystery of "Melencolia" is that which might be called the rational's other. Perhaps this is what inspires the artist to approach geometry and mystery in her work in a relationship which is complementary, as opposed to one which is exclusive.
One-point linear perspective explicitly characterizes the modern subject's way of looking as the "objective" viewpoint, and euer since fit has had priority in everyday perception as well as in scientific thinking. Anything that does not correspond to fit is separated, so that even thinking is divided, analog to the spatial division of geometry, into "objective" and "non-objective." Even an a basic level of perception, elementary structures of space are revealed as being dualistic. This results in, for example, the separation of rationality and feeling, of the conscious and unconscious, and of libidinous energy and melancholy. Yet anything that is subordinate survives latently.
Two decisive attributes of geometry are quantity and scale. They bring about the beauty of the proportions in the relationship of the parts to one another. In Beate Rothensee's work they are given their due by her predominant use of black and White and her deliberate horizontal and vertical orientation.
However by deviating from totally precise geometric forms and concentrating an their edges, which - exactly like individual surfaces - are ripped, wrinkled, folded, and cut into, the borders of the geometric forms in the separating lines, edges and cracks of the paper become inside and outside simultaneously. Sometimes shadows become visible which approach the separating border directly. Phenomena are revealed which cannot be perceived by measuring. This corresponds with the artist's great sensitivity for paper, which is her preferred material. The paper overlaps, forms layers, collides. Spatial effects become noticeable which go beyond the two-dimensionality of both Panel paintings and the drawings, not only imaginarily, but also in real terms.
Apart from a few exceptions - see for example "Blanca" - Beate Rothensee renounces the procedures of painting or drawing. A new sort of reality emerges in her work, an "in-between," minimal empty spaces which denote a sort of "nothing." This "nothing," the "in-between," opposes an undifferentiated distinction between black and White, rational and irrational, positive and negative.
Maria Kreutzer
Translation: Tas Skorupa
Konstruktion und Eigensinn
Zu den Arbeiten von Beate Rothensee
Die Arbeiten von Beate Rothensee thematisieren die Zerstörung ursprünglicher Zusammenhänge und ihre rational-intentionale Neukonstruktion. Das Material ihrer Collagen ist Papier. Es geht dabei um das Spannungsverhältnis zwischen dem Material und der geometrischen Form, in welche es gezwungen werden soll.
Deutlich werden die Grenzen intentionaler Formbarkeit erkennbar: die Widerständigkeit des Papiers, welches sich seiner Vereinnahmung durch den konstruktiven Eingriff widersetzt, wird als eigensinnige Selbstbehauptung plastisch und geradezu handgreiflich sichtbar. Der harte Schwarz-Weiß-Kontrast lässt dabei die Möglichkeit von Versöhnung fraglich oder zumindest immer prekär erscheinen. Beide - das Schwarze und das Weiße - stehen hart und gleichzeitig ungeheuer verletzlich nebeneinander, ein harmonisch verbindendes Jing und Jang im Sinne eines stabilen Gleichgewichts ist schwer denkbar.
Die Objekte setzen sich aus Elementen zusammen, die die Spuren von Beschädigung aufweisen: das Papier, aus denen sie bestehen, ist zerrissen und zerknickt; die Ränder - zerfleddert und zerfetzt - zeigen auf dramatische Weise, dass sie anderen ursprünglichen Kontexten entstammen und einstmals für andere Bestimmungen vorgesehen waren.
Der goldene Schnitt ist der Titel einer Arbeit, welche den Gegensatz von jungfräulichem Weiß und einem tiefen Schwarz, das die Spuren vergangener Kämpfe aufweist, hart und unvermittelt nebeneinander stellt. Der Titel drückt eine Sehnsucht aus, die in der Realität keine Entsprechung findet, und doch wenigstens in den Proportionen real wird.
Aber es gibt immer wieder auch starke Ansätze für eine Durchdringung:
so taucht z. B. bei der Arbeit Transformation - weiß - im grellen Nichts des weißen Papiers der schwarze Schatten eines Etwas auf, oder der schwarze Block der Finsternis z. B. bei Fortitudo wird aufgehellt durch einen weißen Spalt des Lichts. Auch die Schatten werfende Dreidimensionalität der Objekte, durch Schichtungen des Papiers und Knicke entstanden, rufen einen vermittelnden Zwischenbereich hervor, der jedoch vor dem harten schwarz-weiß Kontrast immer zurücktritt.
Metaphorisch berichten diese Arbeiten von Verletzungen, die nicht oder nur schwer zu heilen sind, von hart erkämpften Identitäten, deren komplexe Integration nie ein für alle Mal gesichert, von einer Harmonie, die allenfalls vorübergehend herstellbar ist.
Barbara Töpper - Fennel
Jenseits der Klassik
Zu den Arbeiten von Beate Rothensee
Die Objekte von Beate Rothensee sind karg und kraftvoll zugleich. Klare Formen dominieren und stehen scheinbar nur für sich selbst; sie wirken überzeitlich und unbedingt. Die Proportionen und die innere Balance der Arbeiten erwecken den Schein klassischer Schönheit und Eleganz.
Doch ist diese Schönheit nicht ungebrochen. Zerrissenheiten, Einbrüche und Unsicherheiten werden offengelegt und sinnlich erfahrbar gemacht.
Große Flächen umhüllen oder verkleiden Dahinterliegendes; das Verdecken ist zugleich ein Entdecken, zeigt Risse, Einbrüche, verschiebt Ebenen und gestattet Einblicke in die Tiefe. Unergründliches Schwarz erzeugt Sogwirkung, Öffnungen scheinen nach vorn zu drängen und räumlich zu wachsen. Der Betrachter ist versucht, die Beunruhigung aufzuheben, Schräglagen geradezurücken, geklappte oder geklebte Bildteile weg- oder hinzuzudenken, um das klassische Ideal wiederherzustellen: Einheit, Ruhe, Selbstgewißheit, Glück und damit all das, was die klassische Schönheit ausmacht.
Doch die stille Leidenschaftlichkeit der Objekte duldet keine Fixierung. Unerbittlich entfaltet sich das dramatische Potential der Gegensätze: Schwarz und Weiß, Vordergrund und Hintergrund, Horizontalität und Vertikalität arbeiten gegeneinander, durchdringen einander und finden in einer neuen prekären Balance zusammen.
Die Fragilität und Vergänglichkeit des Materials verstärkt die Dynamik der Gegensätze und wirkt als subversive Kraft gegen den formgebenden Gestus. Hier handelt es sich nicht um klassische Materialien wie Marmor, Stein oder Eisen, sondern um Papier mit Knitterfalten, abgeplatzten Farben, Arbeits- und Lebensspuren.
Ungebrochene Erhabenheit aus der Gewißheit der Wahrheit und dem Bewußtsein der Mitte ist in der modernen Welt nicht mehr möglich. Angesichts der Zerrissenheit, der Widersprüche und der Heterogenität des Lebens wäre sie nur schöner Schein.
Die Arbeiten wollen sich diesem Problem stellen, halten unbeirrt an dem Ideal fest, aus dem alle Kunst seit jeher ihre Kraft schöpfte. Sie sind ein Tanz von Kraft um eine imaginäre Mitte und formulieren zugleich - fast lakonisch - ihre Nicht-Möglichkeit: moralische Rigidität, die sich den Blick nicht trüben läßt, die die Spannung der Widersprüche aushält, sie in der Schwebe hält und immer wieder neu exponiert.
Dr. Achim Völse |